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Auswirkungen von Pandemie, Ukrainekrieg und Mindestlohnerhöhung auf die Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern

Die Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern ist noch nicht gegeben. In Hessen besteht im Jahr 2021 noch eine Lohnlücke zwischen Frauen und Männern in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung von 9 Prozent. Diese Lücke ist grundsätzlich auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen. Um zu wissen, über welche Stellschrauben Einfluss auf eine Reduzierung der Lohnlücke genommen werden kann, ist es wichtig, diese Ursachen zu kennen. Deshalb werden im Folgenden zunächst die drei wesentlichen Ursachen der Entgeltungleichheit beschrieben, um anschließend zu erörtern, wie sich die Pandemie auf die Entwicklung der Entgeltgleichheit bzw. die noch bestehenden Lohnlücken ausgewirkt hat. Es soll zudem erläutert werden, ob und wie sich die Folgen des Ukrainekrieges auf die Entgeltungleichheit auswirken können sowie soll ausgeführt werden, welche Effekte von der Erhöhung des Mindestlohns im Oktober 2022 ausgehen können.

Ursachen der Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern

Beim Vergleich der Bruttoentgelte von Frauen und Männern zeigt sich noch immer eine Lohnlücke zuungunsten von Frauen. Diese ist vor allem auf drei Ursachen zurückzuführen:

  • Die Berufswahl ist in Deutschland und damit auch in Hessen immer noch stark geschlechtsspezifisch geprägt. Junge Frauen und Männer wählen zumeist unterschiedliche Ausbildungsberufe. Frauen entscheiden sich deutlich öfter als Männer für die sogenannten Frauenberufe im Dienstleistungsbereich. Besonders die personenbezogenen Dienstleistungsberufe in der Pflege und Erziehung werden vor allem von Frauen gewählt. Auch Berufe in der Gastronomie und dem Handel, die zu den sachbezogenen Dienstleistungen gehören, werden vorrangig von Frauen ergriffen. Demgegenüber wählen junge Männer eher Ausbildungsberufe oder Studiengänge, die sich auf gewerblich-technische Felder richten, zu welchen auch die MINT-Berufe gehören. Diese Orientierungen in der Berufswahl führen nicht nur zu einem weiter bestehenden geschlechtersegregierten Arbeitsmarkt, sondern auch zur Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern. Denn die in den Dienstleistungsberufen erreichten Entgelte, die oft bei öffentlichen Arbeitgebenden angesiedelt sind, sind im Schnitt niedriger als jene im gewerblich-technischen Bereich. Damit führt bereits die Berufswahl zu Entgeltungleichheiten zwischen Frauen und Männern. Um den Gender Pay Gap zu schließen, fordert beispielsweise der Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V. eine „Aufwertung frauentypischer Berufe hin zu einem gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit“ (Verband alleinerziehender Mütter und Väter 2022).
  • Jochmann-Döll et al. (2022: 4ff.) argumentieren ebenfalls, dass eine Unterbewertung von Berufen und Tätigkeiten, die Frauen ausüben, entsprechend eine der wesentlichen Ursachen von Entgeltungleichheit sei. Diese Unterbewertung kann durch eine nicht geschlechtsneutrale und Frauen benachteiligende Bewertung in Entgeltsystemen entstehen. Die zu geringe Bewertung weiblich dominierter Tätigkeiten entsteht beispielsweise dann, wenn wesentliche Anforderungen der Tätigkeiten wie beispielsweise Kommunikation nicht berücksichtigt oder zu gering bewertet werden. Besonders im Zuge der zunehmenden Digitalisierung vieler Tätigkeitsbereiche von Frauen während der Pandemie können neue und erhöhte Anforderungen zu einer „schleichenden Alltäglichkeit“ werden, die nicht als entgeltrelevant betrachtet werden. Die seit vielen Jahren umgesetzten Berufsorientierungsprogramme, besonders zu nennen sind jene, die sich auf die Orientierung von Mädchen und jungen Frauen in MINT-Berufe beziehen, greifen bisher nur wenig. Der Anteil von Frauen in MINT-Berufen bleibt gering. Der Einfluss von geschlechtsspezifischer Sozialisation und Vorbildern erweist sich weiterhin als sehr stark.
  • Frauen unterbrechen oder reduzieren ihre Erwerbsarbeit häufiger als Männer, um die Vereinbarkeit mit familiären Belangen zu sichern.

    „Um der Ausprägung einer Zuverdiener-Partnerschaft nach der Familiengründung vorzubeugen, gibt es verschiedene Ansatzpunkte. Zu Verbesserungen der Rahmenbedingungen für die Erwerbstätigkeit vor allem von Müttern gehören eine bedarfsgerechte und qualitativ hochwertige Betreuungsinfrastruktur, Anreize für kürzere Erwerbsunterbrechungen nach einer Geburt sowie der Abbau der Förderung geringfügig entlohnter Beschäftigungsverhältnisse“ (Bonin et al. 2020: 9).

    Der Wiedereinstieg nach einer Unterbrechung erfolgt zudem oft berufsfremd, da zeitlich und räumlich flexible Bedingungen zur Sicherstellung der Vereinbarkeit notwendig sind. Unterbrochene Erwerbsbiografien, Teilzeit oder geringfügige Beschäftigungen erschweren berufliche Aufstiege und Karrieren, so dass Frauen weniger oft als Männer, mit längerer Berufserfahrung mehr berufliche Verantwortung übernehmen können und damit auch höhere Entgelte erlangen. Die Berechnungen auf Basis von SOEP-Daten verdeutlichen, dass sich der Rückgang des Gender Pay Gaps nach Altersgruppen unterscheidet:

    „Während er bei unter 30-Jährigen seit der Wiedervereinigung deutlich auf rund acht Prozent gesunken ist, verharrt er in Altersgruppen ab 40 Jahren bei deutlich über 20 Prozent. Die Phase der Familiengründung sei nach wie vor einschneidend für Erwerbsbiografien und Gehälter vieler Frauen; Ursache ist die ungleiche Aufteilung der Sorgearbeit zwischen Vätern und Müttern. Ansatzpunkte sind die Ausweitung der Väter-Monate beim Elterngeld bei gleichzeitig höherer Lohnersatzrate sowie Reform des Ehegattensplittings und der Minijobs“ (Schrenker/Wrohlich 2022: 149).

    Rechtliche Rahmenbedingungen wie das Ehegattensplitting verstärken die Tendenz, dass eher Frauen als Männer die Erwerbsarbeit unterbrechen. Darauf verweist eine Studie des IAB (Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) aus dem Jahr 2022. Dort heißt es:

    Allerdings existieren immer noch „[…] tiefsitzende gesellschaftliche Rollenbilder, die für die Aushandlungsprozesse zwischen den Paaren maßgebliche sind. Die ungleiche Verteilung von Voll- und Teilzeitarbeit zwischen den Geschlechtern, gefördert durch das Ehegattensplitting und die Minijobregelung, verfestigt diese Rollen noch“ (IAB 2022a).
  • Die innerbetrieblichen Aufstiege erweisen sich für Frauen im Schnitt deutlich schwieriger als für Männer. Frauen sehen sich mit der sogenannten gläsernen Decke konfrontiert. Diese entsteht, da die Mehrzahl der Entscheiderinnen und Entscheider über innerbetriebliche Aufstiege nach wie vor männlich ist und in den meisten Fällen unbewusst nach dem Prinzip der Ähnlichkeit (Homophilie) entscheidet. Dies führt dazu, dass Männer im Schnitt bessere Aufstiegschancen als Frauen haben. Da Aufstiege mit höheren Entgelten verbunden sind, trägt die gläserne Decke zur Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern bei. Wichtig ist auch zu erwähnen, dass Aufstiegsmöglichkeiten ebenfalls in Betriebskulturen reflektiert werden. Besonders lange Anwesenheiten im Betrieb werden noch vielfach mit Ambitionen für Aufstieg gleichgesetzt. Lange Anwesenheiten setzen unter anderem Vollzeit und Präsenz in Randzeiten voraus, was von Teilzeitbeschäftigten, die überwiegend weiblich sind, nicht geleistet werden kann. Entsprechend werden Männern häufiger als Frauen Aufstiegsambitionen zugeschrieben und Aufstiege ermöglicht (vgl. auch OECD (2022)).

Geschlechtsspezifische Berufswahl, Unterbrechungszeiten im Erwerbsverlauf und geschlechtsspezifische Aufstiegsmöglichkeiten bilden die Grundkoordinaten dafür, dass Frauen im Schnitt weniger als Männer verdienen. Die Pandemie hat sich auf alle drei Komponenten, wenn auch in unterschiedlichem Maße, ausgewirkt. Besonders während des ersten Pandemiejahres 2020 bis hin zum Frühjahr 2021 waren die Auswirkungen stark, dadurch die Kontaktbeschränkungen vor allem Dienstleistungsberufe mit hohen Anteilen an Frauenbeschäftigung betroffen waren. Außerdem stellten die Schließungen bis hin zu den nicht sicher planbaren Öffnungen von Schulen und Betreuungseinrichtungen verbunden mit häuslichen Quarantänezeiten immense Herausforderungen an häusliche Sorgearbeit und Vereinbarkeit dar. Diese werden zum Großteil von Frauen bewältigt. Aber auch Kurzarbeit in vielen Branchen, starke Zunahme von Leiharbeit in Pflege, Gesundheit und Erziehung sowie Freisetzungen wirken sich auf die Entwicklung der Entgeltgleichheit aus. Zu den Richtungen der Auswirkungen gibt es in der einschlägigen Forschung jedoch noch unterschiedliche Befunde. Es kann deshalb derzeit (in der zweiten Jahreshälfte 2022) noch keine abschließende Einschätzung vorgenommen werden. Entwicklungstrends können jedoch benannt werden.

Auswirkungen der Pandemie auf die Entgeltgleichheit von Frauen und Männern

Die drei Grundkoordinaten der Entgeltungleichheit sind in unterschiedlicher Art und Weise von den Folgen der Pandemie beeinflusst:

  • Die geschlechtsspezifische Berufswahl wurde insbesondere in den ersten beiden Pandemiejahren durch eine „Krise der dualen Ausbildung“ bestimmt. Wegen eingeschränkter oder nicht möglicher Berufsorientierungsmaßnahmen und dem Wegfall von Betriebspraktika aufgrund der Kontaktbeschränkungen haben sich deutlich weniger junge Menschen als noch vor der Pandemie für den Beginn einer dualen Ausbildung entschieden. Besonders starke Einbrüche in der Ausbildung zeigten sich in den Branchen, die von der Pandemie stark betroffen waren, wie der Gastronomie, dem stationären Einzelhandel, der Kultur und – für Hessen besonders relevant – der Flug-, Reise- und Tourismusbranche. Jedoch wurden umgekehrt in anderen frauentypischen Berufen, die als systemrelevant gelten, wie beispielsweise bei der Ausbildung zur Erzieherin und zum Erzieher deutliche Zuwächse verzeichnet. Dies bedeutet, dass bei den Ausbildungen in den sogenannten Frauenberufen zwar quantitative Verschiebungen stattgefunden haben, sich jedoch keine Indikatoren zeigen, die auf ein Aufbrechen der Geschlechterorientierung bei der Berufswahl hinweisen würden. Gleiches gilt für die Ausbildungen in den typischen Männerberufen, die ebenfalls deutliche Rückgänge hinnehmen mussten, jedoch anteilig keine Zugewinne von weiblichen Auszubildenden in den scheinbar sicheren gewerblich-technischen Berufen verzeichnen konnten.
  • Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hat sich als eines der zentralen Themen während der Pandemie erwiesen. Die häusliche Sorgearbeit nahm besonders in den Jahren 2020 und 2021 aufgrund der Schließung von Schulen und Betreuungseinrichtungen sowie der weiteren Aufwände für Homeschooling deutlich zu. Studien von Globisch et al. (2022) zeigen, dass insbesondere im ersten Pandemiejahr Männer größere Anteile der Sorgearbeit übernommen haben als noch vor der Pandemie. Diese Anteile sind jedoch bis zum aktuellen Jahr 2022 wieder ersichtlich zurückgegangen. Deutlich ist jedoch, dass das Mehr an Sorgearbeit vor allem von Frauen geleistet wurde. Diese haben ihre Arbeitszeiten zum Teil reduziert oder durch die Flexibilität von Homeoffice in den Randzeiten außerhalb der Sorgezeiten umsetzen können. Es sind jedoch ebenfalls Befunde aus der Forschung zu berichten, wonach Männer ihre Arbeitszeiten reduziert haben, um vermehrt Sorgearbeit zu leisten, wenn ihre Partnerinnen in systemrelevanten Berufen, beispielsweise in der Pflege, in Präsenz tätig sind. Insgesamt ist jedoch davon auszugehen, dass die umfangreichere Sorgearbeit während der Pandemie zu weiteren Arbeitszeitreduktionen bei mehr Frauen als Männern geführt hat. Somit haben diese wiederum deren Karriere- und Aufstiegschancen sowie höhere Entgelte eher ungünstig beeinflusst. Eine Studie des IAB aus dem Jahr 2022 zeigt auf, dass sich die Wirkungen nicht nur auf die Zeit der Pandemie begrenzen, sondern auch darüber hinaus gehen könnten. In der Studie heißt es:

    „Im Zweifel werden [Arbeitgeberinnen und; Anmerk. des Verf.] Arbeitgeber wichtige karriererelevante Projekte womöglich lieber nicht an Personen vergeben, bei denen sie spontane Arbeitsausfälle [aufgrund von Sorgearbeit; Anmerk. des Verf.] zu befürchten haben. […] Wenn Vorgesetzte damit rechnen, dass insbesondere Mütter spontan anfallende Kinderbetreuungsaufgaben übernehmen, kann das eine Logik erzeugen, dass man Müttern die anspruchsvollen Aufgaben lieber nicht gibt – mit den entsprechend nachteiligen Auswirkungen auf deren Karrieren“ (IAB 2022a).

    Während der Pandemie kurzfristig rational getroffene Entscheidungen können langfristige Auswirkungen auf das Erwerbseinkommen von Frauen haben. Welches der beiden Elternteile letztlichdie Arbeitszeit reduziert, ist maßgeblich von finanziellen Überlegungen bestimmt. Insbesondere Familien in niedrigeren Einkommensschichten können es sich oft nicht leisten auf das meist höhere Gehalt des Mannes zu verzichten, wodurch die Frau ihre Stunden meist reduziert. Diese Entscheidung kann jedoch auf lange Sicht die Lohnlücke weiter vergrößern. Die ökonomischen Folgen der Pandemie werden wohl noch länger zu spüren sein und somit eine Rückkehr von Frauen zu ihren vorpandemischen Arbeitszeiten hindern (Kohlrausch/Zucco 2020).
  • Die innerbetrieblichen Aufstiege hat die Pandemie im Jahr 2020 und 2021 eher abgebremst, zumindest in allen Branchen, die stark durch die Kontaktbeschränkungen der Pandemie beeinflusst waren. Dies führt zu schwierigen wirtschaftlichen Lagen in vielen Betrieben der Dienstleistung wie Handel, Gastronomie, Messen, Kultur und Verkehr. Aber auch in anderen Branchen im produzierenden Bereich, die vor allem im Jahr 2020 von unterbrochenen Lieferketten und Grenzschließungen betroffen waren, hat die unsichere Lage wenige innerbetriebliche Aufstiege erlaubt. Des Weiteren befinden sich Branchen wie der Automotive- und der dazugehörige Zulieferbereich in den Bereichen Metall und Kunststoff in einem fundamentalen Strukturwandel weg vom Verbrennermotor mit zum Teil unsicheren wirtschaftlichen Aussichten für die Betriebe. Die unsicheren wirtschaftlichen Lagen korrespondieren mit einer geringen Arbeitsmarktdynamik in diesen Branchen. Dies bedeutet, dass kaum Stellenwechsel oder Aufstiege realisiert werden. Darüber hinaus war die Zunahme des mobilen Arbeitens von Frauen und Männern und die damit verbundene Führung auf Distanz lange mit der Hoffnung verbunden, dass damit wichtige kulturelle Elemente des Aufstiegs, die langen Präsenzzeiten, an Wirksamkeit verlieren würden. Mit der zunehmenden, punktuellen Rückkehr von Beschäftigten in Präsenz wird im Jahr 2022 deutlich, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Wandel in den Betriebskulturen vollzogen hat. Die höhere Präsenz von Frauen bei betrieblichen Entscheiderinnen und Entscheidern durch das mobile Arbeiten beider Geschlechter hat bisher auch zu keinen messbaren Auswirkungen auf eine Erhöhung der Chancen von Frauen für innerbetrieblichen Aufstieg geführt. Jutta Allmendinger argumentiert zudem, dass Männer schneller als Frauen wieder in Präsenz zurückgekehrt seien, und dass damit eine geringere Sichtbarkeit von Frauen im Betriebsalltag entstehen würde. Damit könnten Frauen in geringerem Maße bei ihren Vorgesetzten als „Aufstiegsbereite“ wahrgenommen werden und gleichzeitig hätten sie aufgrund des mobilen Arbeitens weniger Gelegenheiten, die strategisch wichtigen innerbetrieblichen informellen Netzwerke aufzubauen und zu pflegen (FOM 2021).

Die Betrachtung der drei wesentlichen Ursachen für die Entgeltungleichheit und deren Betroffenheit durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie beleuchten bereits einige wichtige Aspekte, die auf die Entwicklung der Lohnlücke zwischen Frauen und Männern während der Pandemie einwirken. Darüber hinaus sind noch weitere Faktoren wie Kurzarbeit oder die Freisetzung von Arbeitskräften, die ebenfalls die Entwicklung der Entgeltgleichheit beeinflussen können.

Mittelbare und unmittelbare Effekte der Corona-Pandemie auf die Entwicklung der Lohnlücken zwischen Frauen und Männern – Befunde aus der Forschung

Die einschlägige empirische Forschung liefert Befunde zu drei Faktoren, die sich mittelbar oder unmittelbar auf die Entwicklung der Höhe der Lohnlücken in den Pandemiejahren auswirken. Die meisten Befunde liegen zu den Effekten der vermehrten häuslichen Sorgearbeit auf die Entgeltlücke vor. Auch werden Auswirkungen der Freisetzung einer hohen Zahl geringfügig Beschäftigter in den stark von der Pandemie betroffenen Branchen auf die Entgeltlücke erfasst und schließlich liegen Forschungsergebnisse vor, die zeigen, dass sich auch das Kurzarbeitergeld und dessen Aufstockung auf die Entwicklung von Entgeltlücken auswirken kann. Die Forschungsergebnisse zeichnen dabei ein uneinheitliches Bild. Einige Befunde gehen von einer Vergrößerung der Entgeltlücke, andere von einer Verringerung der Lohnlücke zwischen Frauen und Männern während des ersten und zum Teil auch des zweiten Pandemiejahres aus.

Zunächst soll der Einfluss der Anpassung der Arbeitszeiten aufgrund von erweiterter häuslicher Sorgearbeit betrachtet werden. Mit den durch die Pandemie ausgelösten Schließungen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen wurden Eltern vor die Herausforderung gestellt, mehr häusliche Sorgearbeit leisten zu müssen und diese Aufgabe mit ihrer Erwerbstätigkeit zu vereinbaren. Wie auf diese Herausforderung reagiert wurde, hing dabei maßgeblich von den schon bestehenden familialen Arbeitsteilungs- und Erwerbstätigkeitsstrukturen ab, sowie von den Branchen, in denen die Eltern jeweils beschäftigt waren.

  • Umfangreiche Sorgearbeit führt zur Reduzierung von Arbeitszeit, von welcher Frauen in höherem Maße als Männer betroffen sind (Meier-Gräwe 2021). Da die Anteile der Löhne von Frauen und Männern schon vor der Pandemie in den Haushaltseinkommen ungleich verteilt sind, wird, um finanzielle Einbußen möglichst gering zu halten, zur Gewährleistung der vermehrten Sorgearbeit die Entscheidung für eine Reduzierung der Arbeitszeiten der Frauen getroffen. Mit sinkendem Haushaltseinkommen steigt die Tendenz zur Reduktion der Arbeitszeiten von Frauen sogar (Schraub 2021). Der Gender Time Gap, das heißt der Rückstand von Frauen bei der durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeit, wird pandemiebedingt größer (Kohlrausch/Zucco 2020). Diese Tendenz wird von Zucco und Lott (2021: 15), welche über die ersten drei Corona-Wellen eine häufigere Arbeitszeitreduktion aufgrund von Kinderbetreuung bei Frauen als bei Männern beobachtet haben, ebenfalls gestützt.

    „Ausgehend von einem allemal niedrigeren Niveau reduzierte jede vierte Frau zwischen Januar und April 2020 ihre Erwerbstätigkeit, bei den Männern waren es 15 Prozent. Im Januar 2022 ist es noch jede fünfte Frau, während nur noch fünf Prozent der Männer weniger arbeiteten als vor der Pandemie. Die Einbußen von Frauen sind also nachhaltiger als jene von Männern. In Stunden bemessen verringerten Väter mit Kindern unter zwölf Jahren ihre Arbeitszeit von durchschnittlich 41 Wochenstunden vor der Pandemie auf 38 Wochenstunden im Juni 2020. Auch während der Pandemie arbeiteten sie damit sogar länger als Männer ohne junge Kinder. Mütter mit jungen Kindern reduzierten ihre Arbeit im Durchschnitt von 31 auf 26 Wochenstunden – weit mehr als Frauen ohne kleine Kinder. Im Ergebnis haben sich die Arbeitszeitdifferenzen zwischen Männern und Frauen erstmals seit 2013 wieder erhöht. Das wird sich erheblich auf die Altersrente auswirken. […] Außerdem blieben Mütter länger als vereinbart in Elternzeit und gaben häufiger als Männer geplante Weiterqualifikationen auf“ (Allmendinger 2022).

    Aus diesen Befunden kann eine erste These formuliert werden, die sich auf eine Vergrößerung der Entgeltlücke als unmittelbare Auswirkung der Pandemie bezieht und lautet: Eltern haben aufgrund umfangreicherer Sorgearbeit, vor allem einem erhöhten Betreuungsaufwand während der Pandemie, ihre Arbeitszeiten reduziert. Dies trifft auf Frauen häufiger als auf Männer zu. Damit verringert sich die Entgelthöhe von Frauen und in der Folge wird die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern durch diesen Effekt größer.
  • Die Arbeitszeitreduktionen von Frauen können dazu führen, dass Frauen mittel- und langfristig mit geringeren Aufstiegsmöglichkeitenrechnen können, was sich in den Gehaltsentwicklungen niederschlagen kann (Krell/Sieber 2020). Entsprechend kann von einer mittelbaren Auswirkung der Pandemie auf die prospektive Vergrößerung der Entgeltlücke ausgegangen werden. Die These lautet:
    Während der Pandemie sind Frauen stärker und umfangreicher als Männer mit Aufgaben der Sorgearbeit belastet. Dies führt dazu, dass sie weniger in ihre Karriere investieren können als Männer. Da die Reduzierung von Erwerbsarbeitszeit mit niedrigeren Entgelten und geringeren Aufstiegschancen verbunden ist, führt dies dazu, dass die Entgeltlücke auch zukünftig zwischen Frauen und Männern größer werden kann.
  • In spezifischen Haushaltskonstellationen reduzieren Frauen trotz erweiterter Sorgebedarfe ihre Arbeitszeiten nicht stärker als dies ihre männlichen Partner tun. Globisch sowie Kolleginnen und Kollegen beobachten beispielweise, dass sich die wöchentlichen Arbeitszeiten von Männern weniger langsam im Laufe des Jahres 2020 erholen als jene von Frauen. Frauen sind im August 2020 mit 31,7 Stunden bereits wieder nah am vorpandemischen Stand von 32,7 Stunden. Demgegenüber liegen die Arbeitszeiten von Männern im August 2020 noch mit 36,6 Stunden deutlicher weiter vom vorpandemischen Schnitt mit 39,6 Stunden entfernt. Insbesondere bei Vätern ist ein starker Rückgang von 41,1 Stunden vor der Pandemie auf 35,2 Stunden im August 2020 zu verzeichnen. Wie sich die Arbeitszeiten von Elternpaaren während der Pandemie tatsächlich entwickelt haben, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Befragungen von Müttern zeigen, dass die Bewegung zu mehr väterlicher Beteiligung ausschließlich bei Paaren stattfand, bei denen die Mütter mehr als 20 Wochenarbeitsstunden arbeiteten und nicht über die Möglichkeit des Wechsels ins Homeoffice verfügten. Von Seiten der erwerbstätigen Väter wurde die Wahrscheinlichkeit einer stärkeren Beteiligung an Kinderbetreuungsaufgaben deutlich erhöht, wenn sie Kurzarbeitergeld bezogen (Globisch et al. 2022). Allerdings kann der Umfang der Erwerbsarbeitszeit auch vom Alter der Kinder abhängen (Bujard et al. 2020). Daraus leitet sich eine weitere These zur Verringerung der Entgeltlücke aufgrund unmittelbarer Auswirkungen der Pandemie ab. Diese These lautet:
    Frauen, die in Paarbeziehungen mit (vor allem jüngeren) Kindern leben, in umfangreicher Teilzeit erwerbstätig sind und dabei über keine Möglichkeit für Arbeiten im Homeoffice verfügen, haben während der Pandemie nur geringfügige Arbeitszeitreduktionen vorgenommen. Um die Sorgearbeit jedoch leisten zu können, haben ihre männlichen Partner ihre Arbeitszeitumfänge stärker reduziert oder befanden sich in Kurzarbeit, was zu einer zeitlichen Entlastung der Partnerinnen beitrug. Als Effekt aus dieser veränderten Teilung der Sorgearbeit resultieren Anstiege der Entgelte von Frauen bei einer Stagnation der Entgelte von Männern. Dies führt zu einer Verringerung der Entgeltlücke.
  • Gleichzeitig hat die Pandemie durch die Ausweitung von Homeoffice und Einführung flexiblerer Arbeitszeiten auch wichtige Anstöße für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und damit zur Ausweitung der Arbeitszeiten von Frauen gegeben (Penkert 2020; Burkert et al. 2022). Mütter haben nach Penkert ihre Arbeitszeiten während der Pandemie um 3,5 Stunden und Väter um 0,4 Stunden erweitert. Die These zum unmittelbaren Einfluss der Pandemie auf die Entwicklung der Lohnlücke zwischen Frauen und Männern lautet:
    Während der Pandemie konnten Frauen aufgrund der umfangreicheren Möglichkeiten des flexiblen und vor allem mobilen Arbeitens ihre Arbeitszeiten erweitern. Männer, die bereits häufiger als Frauen in Vollzeit beschäftigt sind, erweiterten ihre Arbeitszeiten in geringerem Umfang. Diese Entwicklung führt dazu, dass sich die Entgelte von Frauen stärker als jene von Männern erhöhen. Die Erhöhung von Arbeitszeiten und Entgelten bilden im Falle der Frauen zudem eine verbesserte Grundlage für langfristige Aufstiegschancen.

Die Veränderungen der Arbeitszeiten beziehen sich vor allem auf Frauen in Teilzeitbeschäftigung.

Neben der Anpassung von Arbeitszeiten ergeben sich auch aus der Freisetzung von geringfügig beschäftigten Frauen Auswirkungen auf die Entwicklung der Entgeltlücke.

  • Insbesondere Branchen mit einem hohen Frauenanteil waren vermehrt von Arbeitsplatzverlusten betroffen. Hier sind vor allem der Dienstleistungssektor, der Tourismus sowie die Gastronomie zu benennen (Hübgen et al. 2021). Verstärkt wird dieser Trend durch den Umstand, dass diese besonders betroffenen Wirtschaftszweige einen hohen Anteil an geringfügig Beschäftigten aufweisen. Geringfügig Beschäftigte sind zugleich eine Beschäftigtengruppe, welche einen außergewöhnlich hohen Frauenanteil aufweist. Im Einzelhandel sind 20 Prozent der Beschäftigten geringfügig angestellt. Davon sind wiederum 60 Prozent Frauen. In den Sektoren Gastgewerbe, Kunst/Kultur und Erholung beträgt im Jahr 2020 nach Hammerschmid et al. (2020: 5) der Frauenanteil bei den geringfügig Beschäftigten 61 Prozent. Da geringfügig Beschäftigte keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben, sondern stattdessen eher Freisetzungen erfahren, fallen Frauen insbesondere in den betroffenen Branchen schneller aus der Erwerbstätigkeit heraus (Spangenberg et al. 2021). Insgesamt zeigt sich im Jahr 2020, dass auch in anderen, durch die Pandemie weniger stark betroffenen Branchen, schwierige Betriebslagen zur Freisetzung von geringfügig Beschäftigten führen. Dabei sind Frauen im Schnitt stärker als Männer betroffen. Der Rückgang von geringfügiger Beschäftigung wird im zweiten Quartal 2020 im Vergleich zum Vorjahr bei Frauen mit 9,1 Prozent bei Männern mit 7 Prozent gemessen (Zucco/Lott 2021). Verdi beziffert den Rückgang der Beschäftigungszahlen für Minijobs Ende März 2020 auf beinahe 220.000 Minijobs oder 3,3 Prozent auf insgesamt nur noch knapp 6,4 Millionen Beschäftigte. Vom Abbau der Minijobs sind 157.000 weibliche Beschäftigte betroffen (Verdi-Frauenförderung o.J.). Durch den überproportional starken Rückgang bei geringfügig beschäftigten Frauen, fallen diese bei der Ermittlung der Lohnlücke weg. Damit sind weniger Frauen mit geringen Entgelten in der Berechnung berücksichtigt und rechnerisch erhöht sich das durchschnittliche Einkommen von Frauen, was zu einer Verringerung der Lohnlücke führt. Die These zu diesem mittelbaren Pandemieeffekt lautet entsprechend:
    Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind überdurchschnittlich oft in den Branchen verortet, die stark negativ von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind. Geringfügige Beschäftigung wird abgebaut, da kein Anspruch auf Kurzarbeitergeld besteht. Davon sind Frauen überdurchschnittlich stark betroffen. Durch den Wegfall von vielen niedrigen Entgelten erhöht sich das durchschnittliche Entgelt von Frauen rechnerisch. Da diese Entwicklungen Männer weniger betreffen, wird die Entgeltlücke damit geringer.

Dieser Effekt bezieht sich wiederum nur auf Teilzeitbeschäftigte.

Kurzarbeitergeld und dessen mögliche Aufstockung bilden einen weiteren Faktor, der sich auf die Entwicklung der Lohnlücken auswirken kann:

  • Sozialversicherungspflichtige Beschäftigte können Kurzarbeitergeld, welches 80 Prozent des vorherigen Entgelts ausmacht, erhalten. Arbeitgebende können das Kurzarbeitergeld aufstocken, um somit für ihre Beschäftigten eine Annäherung an die Entgelthöhe vor der Pandemie zu erreichen (Deutscher Gewerkschaftsbund 2021). Während in einigen Branchen die tariflichen oder betrieblichen Vereinbarungen zu einer Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf bis zu 90 Prozent des Nettoentgeltes führen, sind Frauen überproportional oft in Branchen vertreten, in denen die Tarifbindung schwach ausgeprägt ist, was die Wahrscheinlichkeit einer Aufstockung deutlich geringer macht. Nach der Hans-Böckler-Stiftung erhielten 46 Prozent der männlichen Kurzarbeitenden im Jahr 2020 eine Aufstockung des gesetzlichen Kurzarbeitergeldes, bei weiblichen Kurzarbeitenden waren es dagegen nur 36 Prozent. Die Aufstockung von Kurzarbeitergeld wirkt sich direkt als Pandemieeffekt auf die Entwicklung der Entgeltlücke aus. Die These lautet:
    Frauen haben während der Pandemie weniger häufig als Männer eine Aufstockung ihres Kurzarbeitergeldes erhalten. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass sie öfter in Branchen beschäftigt sind, die nicht oder kaum durch eine Tarifbindung abgesichert sind. Die geringeren Entgelte von Frauen führen zu einer Vergrößerung der Entgeltlücke.

Die pandemiebedingten Veränderungen des Arbeitsmarktes führen zu unmittelbaren und mittelbaren Effekten hinsichtlich der Verringerung bzw. der Vergrößerung der Lohnlücken zwischen Frauen und Männern. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Verringerung der Entgeltlücken von drei Effekten maßgeblich beeinflusst wird:

  • Der erste Effekt geht auf die vermehrte häusliche Sorgearbeit während der Pandemie zurück. Um dieser nachzukommen, reduzieren unter bestimmten Bedingungen Männer ihre Arbeitszeiten umfangreicher als dies Frauen tun. Eine dieser Bedingungen wäre, dass Frauen nicht mobil arbeiten können, während dies im Falle ihrer männlichen Partner möglich war.
  • Der zweite Effekt geht von den umfangreicheren Möglichkeiten des mobilen und flexiblen Arbeitens aus, welches dazu führt, dass Frauen während der Pandemie ihre Arbeitszeiten umfangreicher erhöhen als Männer. Dies liegt auch darin begründet, dass Männer bereits viel häufiger in Vollzeit beschäftigt sind als dies bei Frauen der Fall ist.
  • Der dritte Effekt wird durch die Freisetzung von überdurchschnittlich vielen Frauen aus Minijobs ausgelöst. Auf diese Weise fällt ein großer Anteil an Frauen mit niedrigen Entgelten bei der Berechnung der Entgeltlücke weg.

Die Vergrößerung der Entgeltlücke wird durch zwei Effekte maßgeblich beeinflusst:

  • Der erste Effekt geht auf die vermehrte häusliche Sorgearbeit zurück, die bei vielen Paaren mit Kindern dazu führt, dass das Elternteil mit den geringeren Beiträgen zum Familieneinkommen, dies sind zumeist die Frauen, die Arbeitszeit stärker zugunsten der Sorgearbeit reduziert als dies der Partner mit dem höheren Einkommensanteil tun würde. Dadurch werden die Entgelte von Frauen häufig niedriger. Neben diesem unmittelbaren Einfluss zeigt sich hier auch ein mittelbarer Effekt auf eine Verschlechterung von zukünftigen Karrierechancen.
  • Der zweite Effekt bezieht sich darauf, dass Männer häufiger als Frauen Kurzarbeitergeld aufgestockt bekommen und damit die Entgeltlücke vergrößert wird.

Diese unterschiedlichen Einzeleffekte können gleichzeitig wirksam sein. Zentral ist die Frage, wie diese zusammenwirken und welcher Gesamteffekt sich letztendlich einstellt. Dies ist schwer einzuschätzen, da sich die meisten der beschriebenen Effekte auf Frauen in Teilzeitbeschäftigung richten. In den Daten des Statistischen Bundesamtes zur Ermittlung des Gender Pay Gaps werden Teilzeitbeschäftigte einbezogen. Die Daten verweisen auf eine Verringerung der Entgeltlücke im Jahr 2020 auf 18 Prozent im Vergleich zum Vorpandemiejahr 2019. Dort hat der Gender Pay Gap noch 19 Prozent betragen. Entsprechend kann daraus geschlossen werden kann, dass der Gesamteffekt der Pandemie letztendlich zu einer Verringerung der Entgeltlücke führt. Dies gilt zumindest für das Jahr 2020.

Weitere Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Entgeltlücke – die Perspektive der Praxis

Der Hessische Lohnatlas wird durch den Dialog der Sozialpartner aus den sechs größten Branchen in Hessen begleitet. Er repräsentiert die Perspektive der Praxis in Hessen. Im Sozialpartnerdialog werden weitere Faktoren spezifiziert, die sich auf die Entwicklung der Entgeltlücke während der Pandemie in Hessen ausgewirkt haben können und bisher in der Forschung noch nicht oder nicht ausreichend betrachtet werden. Zur Überprüfung dieser Faktoren werden Daten zur Lage in Hessen herangezogen, soweit diese verfügbar sind.

Kurzarbeit

Wie bereits in den Forschungsbefunden ausgeführt, erreichen Beschäftigte in Kurzarbeit geringere Entgelte. Nachfolgend handelt es sich um realisierte Kurzarbeit. Vom Beginn der Pandemie im März 2020 bis zum Mai 2021, als die Lockdowns beendet waren, befinden sich mehr Männer als Frauen in Kurzarbeit. Da Kurzarbeitergeld nur 80 Prozent des vorherigen Entgelts deckt, können sich die Entgelte von Männern, insbesondere im ersten Pandemiejahr 2020, stärker als jene von Frauen verringert haben. Dies würde rechnerisch zu einer Verringerung der Lohnlücke zwischen Frauen und Männern in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung führen. Die Verläufe zeigen jedoch auch, dass sich die Unterschiede im Laufe des Jahres 2021 wieder nivellieren und vom Kurzarbeitergeld wenig Effekte auf die Entwicklung der Entgeltlücke ausgehen.

Bei der Betrachtung von Kurzarbeit differenziert nach Branchen, zeigt sich im Falle von Männern, dass knapp 80.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte in der Metall- und Elektrobranche Kurzarbeit zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 wahrnehmen mussten. Da es sich hier um eine Branche mit einem hohen Grad an Tarifbindung handelt, kann davon ausgegangen werden, dass viele Beschäftigte eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes erhalten haben. Auch im Hotel- und Gaststättengewerbe sind im gleichen Zeitraum noch über 20.000 Männer von Kurzarbeit betroffen. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Betriebe in dieser Branche und der geringen Tarifbindung ist vermutlich von einer Aufstockung in weit geringerem Ausmaß auszugehen.

Auch zu Beginn des Jahres 2020 sind fast 20.000 Frauen von Kurzarbeit im Hotel- und Gaststättengewerbe betroffen. Dazu kommen weitere knapp 17.000 Frauen in der Metall- und Elektrobranche in Kurzarbeit und ca. 14.000 Frauen im Einzelhandel. Auch im Einzelhandel, der sich im Strukturwandel hin zum Online-Handel befindet und eine geringe Tarifbindung aufweist, wird Kurzarbeitergeld eher seltener aufgestockt.

Die Daten zeigen, dass Männer in Hessen in viel höherem Maße von Kurzarbeit im Jahr 2020 betroffen waren als dies auf Frauen zutrifft. Auch wenn ein Teil der betroffenen Männer eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes erhalten hat, kann davon ausgegangen werden, dass die durchschnittlich geringeren Entgelte der Männer zu einer Verringerung der Entgeltlücke geführt haben können. Aus Sicht der Praxis scheint dies ein plausibler Effekt zu sein.

Zulagen

In Krankenhäusern und in der Altenpflege werden insbesondere ab 2021 von einigen Einrichtungsträgern Zulagen bezahlt, um das Stammpersonal angesichts der hohen Belastungen durch die Pandemiefolgen zu halten. Diese Zulagen, die teilweise auch im Jahr 2022 noch gezahlt werden, erhöhen die Entgelte leicht und können mit dafür sorgen, dass die Entgeltlücken zwischen Frauen und Männern kleiner werden, da es sich um zahlenmäßig große Berufsgruppen mit hohem Anteil weiblicher Beschäftigter handelt.

Leiharbeit

Im Gesundheitsbereich und in der Altenpflege kommen im Laufe der Pandemie immer mehr Leiharbeitskräfte zum Einsatz. Dazu zählen alle Beschäftigten, die Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern sind. Die Zahl der eingesetzten Leiharbeitskräfte wird von den Sozialpartnern auch im Jahr 2022 noch als hoch eingeschätzt. Leiharbeitskräfte verdienen deutlich mehr als die Stammbelegschaften, sodass die höheren Entgelte durchaus zur Reduktion der Entgeltlücke beitragen können.

Die nachfolgenden Grafiken differenzieren den Einsatz von Leiharbeitskräften nach Berufssektoren. Seit der Einführung des Tätigkeitsschlüssels nach der Klassifikation der Berufe (KldB 2010) gibt es ein personenbezogenes Merkmal zur Arbeitnehmerüberlassung (ANÜ). Die Daten sind ab Januar 2013 verfügbar und mit allen Merkmalen der Beschäftigungsstatistik kombinierbar.

Die Grafiken verdeutlichen, dass die Zahl der weiblichen Leiharbeitskräfte in den Berufen der Gesundheits- und Krankenpflege bereits vor der Pandemie hoch ist. Im Vergleich zum Jahr 2020 sind die Zahlen im Jahr 2021 etwas zurückgegangen.

Im Vergleich dazu stellt sich die Lage in der Berufsgruppe der Altenpflege anders dar. Im Laufe der Pandemie ist die Zahl der weiblichen Leiharbeitskräfte weiter angestiegen.

Bessere Zugänge zum Arbeitsmarkt für junge qualifizierte Frauen

Der Anteil hochqualifizierter Frauen im Berufseinstieg beispielsweise nach einem Studienabschluss, der im Rahmen des Sozialpartnerdiskurses thematisiert wird, nimmt stetig zu. Diese jungen Frauen sind vor allem in Vollzeit beschäftigt und erreichen aufgrund ihrer Qualifikation hohe Entgelte. Der Anteil von Frauen mit hohen Entgelten wird dadurch größer. Dies führt zu einer Verringerung der Entgeltlücke zwischen Frauen und Männern in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung.

Die Grafik verdeutlicht, dass insbesondere bei den Frauen in der Altersgruppe von 25 bis unter 35 Jahren die geringsten Entgeltlücken bestehen. Seit 2012 haben sich diese so günstig entwickelt, dass Frauen in dieser Altersgruppe inzwischen im Schnitt höhere Entgelte als Männer erreichen. Bei den Frauen in der darauffolgenden Altersgruppe von 35 bis unter 45 Jahren ist die Entgeltlücke noch zu ihren Ungunsten ausgerichtet. Allerdings zeigt sich auch hier, dass Lücken im Zeitverlauf seit 2012 geringer werden. In dieser Altersklasse geht es bereits um betriebliche Aufstiege und Frauen sehen sich schon mit dem Phänomen der gläsernen Decke konfrontiert. In der ältesten Gruppe der Frauen von 45 bis unter 55 Jahren sind die Entgeltlücken am größten. Obwohl sich die meisten Frauen schon in der nachfamiliären Phase befinden dürften und die Vereinbarkeit nicht mehr als zentrale Herausforderung besteht, erreichen Frauen im Schnitt nur geringere Entgelte als Männer, auch weil sie in jüngeren Jahren weniger aufgestiegen sind. Möglicherweise können die jungen hochqualifizierten Frauen, die in großer Zahl in den Arbeitsmarkt einmünden, mehr Aufstiege als die vorherigen Altersjahrgänge erreichen und somit auch in den fortgeschrittenen Altersgruppen deutlich geringere Entgeltlücken erreichen.

Die mit Daten aus Hessen hinterlegten Faktoren der Kurzarbeit, der Leiharbeit, der Zulagen und des besseren Berufseinstiegs junger hochqualifizierter Frauen könnten sich aus der Perspektive der Praxis ebenfalls auf eine Veränderung der Entgeltlücken ausgewirkt haben.

Folgen des Ukrainekrieges auf die wirtschaftliche Lage von Frauen

Eine der wesentlichen Folgen des Ukrainekrieges für Privathaushalte sind die Knappheiten im Bereich Energie. Die Preise sind seit Beginn des Jahres 2022 stark angestiegen, verbunden mit einer wachsenden Inflation, die sich beispielsweise auch auf die Lebensmittelpreise auswirkt. Besonders Frauen, Alleinerziehende und Arbeitslose sind mit schwierigen wirtschaftlichen Lagen konfrontiert. Die Bundesagentur für Arbeit stellt fest, dass es für Frauen, die während der Pandemie arbeitslos geworden sind, schwieriger als für Männer ist, wieder eine Beschäftigung zu finden. Sie bleiben somit länger und häufiger arbeitslos. Dies liegt auch darin begründet, dass Frauen in den von der Pandemie stark betroffenen Branchen freigesetzt worden sind und eine Rückkehr in sichere Beschäftigung dort oftmals noch schwierig sein kann  (Bundesagentur für Arbeit 2022). Besonders herausfordernd gestaltet sich die Lage von arbeitslosen alleinerziehenden Frauen, die vorrangig die wirtschaftliche Verantwortung für ihre Kinder und sich selbst haben. Nach Einschätzung der Bundesagentur für Arbeit suchen sie oft Beschäftigung in Berufen, „die häufig eine hohe Flexibilität verlangen und unterdurchschnittlich entlohnt werden (z.B. im Verkauf, als Reinigungskräfte, Hauswirtschaftsberufe oder Erziehungs- und soziale Berufe)“ und werden überwiegend von den Jobcentern betreut(Bundesagentur für Arbeit 2022: 23). 80 Prozent der arbeitslosen Alleinerziehenden nimmt die Unterstützung durch die Jobcenter aktiv wahr, während dies bei allen Arbeitslosen nur auf 60 Prozent zutrifft. Die Bundesagentur für Arbeit führt weiter aus, dass es für Alleinerziehende besonders schwer ist, Kindererziehung und Beruf zu vereinbaren, weil entweder die Kinderbetreuung nicht im erforderlichen Maße gesichert werden kann oder aber Arbeitszeitwunsch und -angebot nicht zusammenpassen. Ein Grund dafür liegt auch darin, dass Alleinerziehende überdurchschnittlich oft in Berufen tätig sind, in denen kein mobiles Arbeiten, welches eine höhere Flexibilität in der Vereinbarung von Beruf und Familie mit sich bringen könnte, möglich ist (Walter Blüchert Stiftung o.J.). Dies führt dazu, dass die SGB II-Hilfequote bei Alleinerziehenden bundesweit bei ca. einem Drittel liegt, während sie sich bei allen Bedarfsgemeinschaften bei deutlich unter 10 Prozent befindet. Mit steigender Kinderzahl nimmt die Hilfequote entsprechend zu.

Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV) stellt fest, dass

„Alleinerziehende von den Folgen der aktuellen Inflation stark betroffen sind. Familien mit kleinen Einkommen und somit viele Alleinerziehende treffen die steigenden Lebenshaltungspreise und Energiekosten besonders hart. Denn aufgrund des mit 43 Prozent übermäßig hohen Risikos in Armut zu leben, haben viele Alleinerziehende keine Puffer für Ungeplantes“ (Verband alleinerziehender Mütter und Väter 2022).

Obwohl Alleinerziehende mit 36 Prozent deutlich häufiger in Vollzeit erwerbstätig sind als Mütter in Paarfamilien – dort sind es nur 29 Prozent – weisen die Haushalte von Alleinerziehenden das größte Risiko auf, ihr Arbeitseinkommen aufstocken zu müssen. Im Bundesschnitt bezieht mehr als jede und jeder sechste erwerbstätige Alleinerziehende zusätzlich Leistungen aus dem SGB II. Entsprechend finden sich Alleinerziehende nicht nur überdurchschnittlich oft als Arbeitslose, sondern auch als Ergänzerinnen und Ergänzer im Rechtskreis SGB II.

Die meisten Alleinerziehenden sind Frauen. In Hessen wurden im Jahr 2019 insgesamt 166.000 Frauen als Alleinerziehende erfasst. Demgegenüber hatten nur 31.000 Männer diesen Status. Neuere Daten liegen nicht vor. Die Betrachtung im Zeitverlauf zeigt zudem, dass die Zahl alleinerziehender Väter eher zunimmt, die Zahl alleinerziehender Mütter schwankt im Zeitverlauf.

Im Jahr 2019 sind 84,3 Prozent aller Alleinerziehenden in Hessen weiblich. Die Mehrzahl der Alleinerziehenden ist erwerbstätig, wobei sich die Erwerbsbeteiligung bei männlichen Alleinerziehenden höher als bei weiblichen erweist. Im Schnitt sind im Jahr 2019 laut Mikrozensus knapp 70 Prozent aller Alleinerziehenden erwerbstätig. Darin sind Ergänzerinnen und Ergänzer enthalten. Ungefähr 30 Prozent der Alleinerziehenden sind laut Mikrozensus im Jahr 2019 arbeitslos.

Im Jahr 2021 sind 12.873 Alleinerziehende arbeitslos. Abweichungen zwischen der ausgewiesenen Gesamtsumme und der tatsächlichen Summe der Teilergebnisse sind aufgrund unterschiedlicher Merkmalstiefen, Auslassung von Kategorien und Rundungen möglich. In Tabelle 1 sind Jahresdurchschnittswerte abgebildet. Bei 92 Prozent der arbeitslosen Alleinerziehenden handelt es sich um Frauen. Die Mehrzahl von 1.812 Alleinerziehenden erhält Leistungen im Rechtskreis SGB III und kann mit hoher Wahrscheinlichkeit als arbeitsmarktnah gelten. Demgegenüber sind 11.061 Alleinerziehende dem Rechtskreis SGB II zugehörig. In Bezug auf die weiblichen Alleinerziehenden befinden sich 86,5 Prozent im Rechtskreis SGB II und 13,5 Prozent im Rechtskreis SGB III. Bei den männlichen Alleinerziehenden gehören 79,7 Prozent zum Rechtskreis SGB II und 20,3 Prozent zum Rechtkreis SGB III.

Der Anteil der alleinerziehenden Arbeitslosen mit einer nicht deutschen Staatsangehörigkeit beträgt 41,2 Prozent. Bei den weiblichen Alleinerziehenden verfügen 41,8 Prozent über keine deutsche Staatsangehörigkeit, bei den Männern trifft dies auf 33,2 Prozent zu. Der Anteil von Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit liegt im Rechtskreis SGB II bei 43,6 Prozent, während der Anteil im Rechtskreis SGB III 26,1 Prozent ausmacht. Beim Personenkreis mit deutscher Staatsangehörigkeit können Personen mit Migrationshintergrund enthalten sein.

Tabelle 1: Zahl arbeitsloser Alleinerziehenden* im Jahr 2021 in Hessen (Wohnort), differenziert nach Rechtskreisen, Geschlecht und Staatsangehörigkeit

Rechtskreis insgesamt deutsch nicht deutsch Männer deutsche Männer nicht deutsche Männer Frauen deutsche Frauen nicht deutsche Frauen
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigungsstatistik, IWAK eigene Berechnung und Darstellung
Anmerkung: *In Anlehnung an die „Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD)“ gelten als Beschäftigte des unteren Entgeltbereichs Personen, die als sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte weniger als 2/3 des Medianentgelts aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten erzielen. Dies ist die Schwelle des unteren Entgeltbereichs. Diese lag in Westdeutschland im Jahr 2021 bei 2.417 EUR.

Mit Blick auf die verschiedenen Typen von Bedarfsgemeinschaften im SGB II-Bezug wird deutlich, dass die Bedarfsgemeinschaften Alleinerziehender dort überproportional stark vertreten sind. Dies zeigt sich an der SGB II-Hilfequote. Diese gibt an, wie groß der Anteil an Personen, die nach dem SGB II leistungsberechtigt sind, an einer bestimmten Bevölkerungsgruppe ist. Sie kann damit verdeutlichen, wie stark die Alleinerziehenden von Hilfebedürftigkeit betroffen sind. SGB II-Hilfequoten für Bedarfsgemeinschaften setzen Bedarfsgemeinschaften des jeweiligen Familientyps in Beziehung zu allen Familien oder Lebensformen desselben Familientyps in der Bevölkerung. Demnach sind im Jahr 2021 genau 33,5 Prozent aller Alleinerziehenden in Hessen hilfebedürftig und erhalten Leistungen nach den Regelungen des SGB II. Dem gegenüber erhalten beispielsweise nur 7,2 Prozent aller Paare mit Kindern in Hessen SGB II-Leistungen. Die Alleinerziehenden sind damit im Vergleich zu anderen Zielgruppen mit Abstand am meisten auf diese staatlichen Transferleistungen angewiesen, da sie entweder aufgrund von Erwerbslosigkeit oder geringer Lohnentgelte über kein oder ein nicht ausreichendes Erwerbseinkommen verfügen, um sich selbst und ihre Kinder wirtschaftlich abzusichern.

Interessant ist, dass die Hilfequoten im SGB II seit 2013 rückläufig sind. Auch das erste Pandemiejahr 2020 hat keine wesentliche Erhöhung der Hilfequoten verursacht. Vermutlich lassen sich die Auswirkungen der Pandemie stärker an der Vergrößerung der Zahl der Alleinerziehenden im Rechtskreis SGB III ablesen.

Exkurs: Weitere Folgen der Pandemie und des Ukrainekrieges auf Frauen in den unteren Entgeltgruppen und mögliche Effekte der Erhöhung des Mindestlohns zum Oktober 2022

Die Folgen der Pandemie und des Ukrainekrieges betreffen Frauen und Männer in den unteren Entgeltgruppen in besonderem Maße. Zum einen sind viele Beschäftigungsverhältnisse in diesem Segment äußerst fragil, und Freisetzung kann sich schnell einstellen, wie die Praxis im ersten Pandemiejahr vielfach gezeigt hat. Die gewünschte Funktion als Sprungbrett zum Aufstieg in bessere, abgesicherte Beschäftigung hat sich für viele nicht erfüllt. „Betroffen sind hier wiederum besonders Frauen, da sie deutlich häufiger als Männer in einem Minijob arbeiten. Die angestrebte Anhebung der Minijobgrenze auf 520 Euro könnte dieses Problem noch vergrößern“ (Braband et al. 2022: 10). Insbesondere Personengruppen, die nur geringe Einkommenspolster haben, um die höheren Preise für Lebensmittel und Energie in Folge des Ukrainekrieges stemmen zu können, können zunehmend mit großen Herausforderungen bei der Sicherung der eigenen wirtschaftlichen Lage konfrontiert sein.

Es sind jedoch nicht nur Frauen und Männer in geringfügiger Beschäftigung, die sich in schwierigen wirtschaftlichen Lagen befinden. Frauen und Männer in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung können ebenfalls den unteren Einkommensgruppen angehören und sich mit den aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert sehen. Neben der aktuellen wirtschaftlichen Lage können sich sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte in den unteren Einkommensgruppen auch keine guten Voraussetzungen für eine auskömmliche Alterssicherung aufbauen. Den unteren Einkommensgruppen bzw. dem unteren Entgeltbereich gehören in Anlehnung an die Definition der OECD sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte an, wenn sie weniger als zwei Drittel des Medianentgelts aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten erzielen. Im Jahr 2021 lag der Schwellenwert zum unteren Entgeltbereich in Westdeutschland bei 2.417 Euro. In Hessen gehören im Jahr 2021 insgesamt 262.837 sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte der unteren Entgeltgruppe an. Dies entspricht einem Anteil von 15,2 Prozent. Die Mehrzahl davon ist männlich (152.004). Dies entspricht 13 Prozent aller Männer, die sozialversicherungspflichtig Vollzeit beschäftigt sind. Die Zahl der Frauen in sozialversicherungspflichtiger Vollzeit ist mit 110.833 Frauen geringer. Allerdings ist dies vor dem Hintergrund zu interpretieren, dass im Schnitt nur ca. die Hälfe aller sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen in Vollzeit beschäftigt sind, während die Quote bei Männern deutlich höher liegt. Die Quote der Frauen in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung ist im Vergleich zu jener von Männern mit 19,9 Prozent deutlich höher. Dies bedeutet auch, dass ca. ein Fünftel aller sozialversicherungspflichtig in Vollzeit beschäftigter Frauen in Hessen dem unteren Entgeltbereich angehören. Dies bezieht sich auf die Bruttomonatsentgelte, die Wirkungen des Ehegattensplittings sind noch nicht antizipiert.

Tabelle 2: Sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte im unteren Entgeltbereich* zum 31.12.2021 in Hessen (Arbeitsort), differenziert nach Geschlecht

Region sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (SvB) in Vollzeit (VZ) ohne Auszubildende am Arbeitsort insgesamt davon im unteren Entgeltbereich
gesamt Anteil in VZ Männer Anteil SvB-Männern in VZ Frauen Anteil SvB-Frauen in VZ
absolut absolut % absolut % absolut %
Hessen 1.730.623 262.837 15,2 152.004 13,0 110.833 19,9
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigungsstatistik, IWAK eigene Berechnung und Darstellung
Anmerkung: *In Anlehnung an die „Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD)“ gelten als Beschäftigte des unteren Entgeltbereichs Personen, die als sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte weniger als 2/3 des Medianentgelts aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten erzielen. Dies ist die Schwelle des unteren Entgeltbereichs. Diese lag in Westdeutschland im Jahr 2021 bei 2.417 EUR.

Deutschlandweit liegen die Anteile der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich etwas höher als in Hessen. Dabei sind die Anteile in Deutschland im Zeitverlauf rückläufig. Dies trifft auf Hessen nicht zu.

Die Anteile von Personen in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung, die dem unteren Entgeltbereich angehören, schwanken zwischen den Kreisen und kreisfreien Städten in Hessen beträchtlich. Im Schnitt sind die Anteile in den kreisfreien Städten geringer als in den ländlich strukturierten Kreisen. Eine Ausnahme stellt die Stadt Offenbach dar. Dort sind die Anteile etwas höher als in den übrigen kreisfreien Städten. Bei den Kreisen sind in jenen, die nahe an den urbanen Bereichen gelegen sind oder durch gute Verkehrsverbindungen mit diesen verbunden sind, die Quoten etwas niedriger als in den Kreisen an den Rändern des Landes. In allen Gebietskörperschaften sind die Anteile von Frauen im unteren Entgeltbereich höher als jene der Männer. Allerdings sind die Abstände unterschiedlich groß. Während die Anteile von Frauen in den ländlich strukturierten Kreisen deutlich größer als jene der Männer sind, sind die Abstände in den Städten deutlich geringer.

Die Anteile von sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich variieren zwischen den Branchen stark. Dies zeigt sich sowohl mit Blick auf Deutschland als auch auf Hessen. Besonders hoch sind die Anteile im Gastgewerbe, in der Land- und Forstwirtschaft und der Arbeitnehmerüberlassung. Die niedrigsten Anteile finden sich demgegenüber im Bereich der Versicherungs- und Finanzdienstleistungen, in der Informations- und Kommunikationsbranche sowie in der Metall- und Elektroindustrie. Hessen unterscheidet sich dabei strukturell nicht von Deutschland.

Die Anteile von Frauen und Männern im unteren Entgeltbereich in Hessen unterscheiden sich zwischen den Branchen ebenfalls. Allerdings sind die höchsten Anteile von Frauen und Männern in den unteren Entgeltbereichen in den drei Branchen Gastgewerbe, Land- und Forstwirtschaft sowie Arbeitnehmerüberlassung zu finden. Zudem zeigen im Falle von Frauen noch hohe Anteile im Handel, im Baugewerbe, in der Altenpflege (entspricht Heime und Sozialwesen), in der Logistik (Verkehr und Lagerei), im Gesundheitswesen, in der Metall- und Elektroindustrie und in der Chemieindustrie.

Im Vergleich der Kreise und kreisfreien Städte wird zudem deutlich, dass bei Branchen mit besonders hohen Anteilen an sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten in den unteren Entgeltgruppen deutliche Unterschiede zwischen den Gebietskörperschaften bestehen.

Nachfolgend ist anzumerken, dass bei einer zu geringen Anzahl an Beschäftigten die Aussagekraft von Entgeltverteilungen eingeschränkt ist. Deshalb veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit keine Daten zu Entgeltverteilungen, Medianentgelten und Beschäftigten im unteren Entgeltbereich in Regionen bzw. bei Merkmalskombinationen mit weniger als 500 Beschäftigten. In diesen Fällen wurde der entsprechende Wert durch ein „-“ in den folgenden Grafiken ersetzt.

Im Gastgewerbe beträgt der durchschnittliche Anteil in Hessen 57,7 Prozent. Die Anteile schwanken zwischen 73,8 im Kreis Hersfeld-Rotenburg und 45,1 Prozent im Hochtaunuskreis. In der Diskussion um die unteren Entgeltbereiche ist zu berücksichtigten, dass die Lebenshaltungskosten im Vergleich der hessischen Kreise und kreisfreien Städte deutlich variieren. Das Gastgewerbe gehört zum Abschnitt I in der Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ 2008).

In der Branche Arbeitnehmerüberlassung befinden sich in Hessen im Schnitt 58,8 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltsegment. Ebenfalls zeigen sich hier deutliche Unterschiede in den Anteilen zwischen den kreisfreien Städten und Kreisen in Hessen. Während der Kreis Limburg-Weilburg einen Anteil von 85,4 Prozent verzeichnet, sind es im Main-Taunus-Kreis nur 17,9 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigen, die dem unteren Entgeltsegment im Jahr 2021 angehören. Die Arbeitnehmerüberlassung gehört zum Abschnitt N, Gruppe 782 und 783 in der Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ 2008).

Ebenfalls hoch sind die Anteile der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich in der Branche Verkehr und Lagerei im Jahr 2021. In Hessen gehören im Schnitt 24,1 Prozent, also ein Viertel der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten den unteren Entgeltgruppen an. Die Unterschiede in den Anteilen sind zwischen den Kreisen und den kreisfreien Städten in Hessen beträchtlich. Die größten Anteile zeigen sich im Kreis Hersfeld-Rotenburg mit 47,6 Prozent, während die geringsten Anteile in der Stadt Frankfurt am Main mit 12,1 Prozent gemessen werden. Interessant ist, dass beide Gebietskörperschaften zwar einen Schwerpunkt in der Logistik in ihrer jeweiligen Wirtschaftsstruktur haben, jedoch im Kreis Hersfeld-Rotenburg eher die Paketlogistik vorherrscht, während in der Stadt Frankfurt die Luftfracht im Fokus ist. Unterschiedliche Entgeltgefüge und unterschiedliche Lebenshaltungskosten sind in diesem Zusammenhang sicherlich zu berücksichtigen. Verkehr und Lagerei gehören zum Abschnitt H in der Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ 2008).

Die Anteile der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten in der Branche Handel im Jahr 2021 sind in gleichem Maße hoch. In Hessen gehören im Schnitt 19,7 Prozent, also ein knappes Fünftel der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten den unteren Entgeltgruppen an. Die Unterschiede in den Anteilen sind zwischen den Kreisen und den kreisfreien Städten in Hessen beträchtlich. Die höchsten Anteile zeigen sich im Werra-Meißner-Kreis mit 40,3 Prozent. Die niedrigsten Anteile werden im Main-Taunus-Kreis mit 10,7 Prozent gemessen. Handel, Instandhaltung, Reparatur von Kraftfahrzeugen gehören zum Abschnitt G in der Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ 2008).

Im unteren Entgeltbereich sind in der Branche Gesundheitswesen im Jahr 2021 hohe Anteile der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten zu verzeichnen. In Hessen gehören im Schnitt 15,4 Prozent, also knapp weniger als ein Sechstel der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten den unteren Entgeltgruppen an. Die Unterschiede in den Anteilen sind zwischen den Kreisen und den kreisfreien Städten in Hessen beachtlich. Die größten Anteile zeigen sich im Main-Taunus-Kreis mit 26,2 Prozent. Die geringsten Anteile werden im Kreis Gießen mit 10,2 Prozent gemessen. Gesundheitswesen gehört zum Abschnitt Q, Abteilung 86 in der Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ 2008).

Hohe Anteile der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich bestehen auch in der Branche Heime und Sozialwesen im Jahr 2021. In Hessen gehören im Schnitt 21,1 Prozent, also mehr als ein Fünftel der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten den unteren Entgeltgruppen an. Die Unterschiede in den Anteilen sind zwischen den Kreisen und den kreisfreien Städten in Hessen beträchtlich. Die Anteile schwanken zwischen 34,5 im Odenwaldkreis und 10,2 Prozent in der Stadt Darmstadt. Heime und Sozialwesen gehören zum Abschnitt Q, Abteilung 87 und 88 in der Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ 2008).

Die Ausführungen zum unteren Entgeltbereich von sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten verdeutlichen, dass Frauen davon deutlich stärker betroffen sind als Männer. Dies trifft auf alle Kreise und kreisfreien Städte in Hessen zu. Jedoch sind die Anteile von Frauen und Männern im unteren Entgeltbereich besonders hoch in den ländlich strukturierten Kreisen des Landes Hessen mit deutlich niedrigeren Lebenshaltungskosten als in den Großstädten. Die beträchtlichen Anteile von Beschäftigten in sozialversicherungspflichtiger Vollzeit im unteren Entgeltbereich sind weiter zu beobachten, vor allem vor dem Hintergrund der hohen finanziellen Anforderungen im Zuge von höheren Energie- und Lebensmittelpreisen.

Es ist allerdings zu erwarten, dass die Erhöhung des Mindestlohns ab Oktober 2022 insbesondere bei den sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten in den unteren Entgeltsegmenten zu einer Verbesserung ihrer Einkommenslage führen kann.

Erhöhung des Mindestlohns ab Oktober 2022 und dessen Auswirkungen auf die Entgeltlage von Frauen

Nach einer Auswertung des Statistischen Bundesamtes im Auftrag des DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) werden von der Erhöhung des Mindestlohns vor allem Frauen profitieren (ntv 2022). Demnach arbeitet jede fünfte Frau derzeit für einen Stundenlohn von unter 12 Euro. Beschäftigung mit Befristung oder in Teilzeit erhöht nach Lübker und Schulten (2022) das Risiko für niedrige Löhne zusätzlich. Es ergeben sich durch die Erhöhung des Mindestlohns deutliche Lohnsteigerungen insbesondere in den weiblich dominierten „Niedriglohnbranchen“ wie dem Einzelhandel oder dem Gastgewerbe (Dullien et al. 2022). Nach Angaben des IAB profitieren 24 Prozent der Beschäftigten in Teilzeitjobs und 9 Prozent bei den Vollzeitjobs von der Erhöhung des Mindestlohns (IAB 2022b). Die größten Verbesserungen für Beschäftigte durch die Erhöhung des Mindestlohns sind in der Gastronomie und in der Landwirtschaft zu erwarten. Die Erhöhung betrifft dort jeweils 50 Prozent der Beschäftigten. Demgegenüber partizipieren im Verarbeitenden Gewerbe nur 10 Prozent der Beschäftigten an der Erhöhung des Mindestlohns (ntv 2022). Da sich für mehr Frauen als Männer durch die Erhöhung des Mindestlohns Vorteile ergeben, kann erwartet werden, dass sich dies günstig auf die Entwicklung der Lohnlücke zwischen Frauen und Männern in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung auswirkt und sich ein Impuls für deren Verringerung aus der Erhöhung des Mindestlohns ableitet.